Von 1945 bis 1960: Das Wirtschaftswunder
Bei Kriegsende in Europa am 8. Mai 1945 drängten sich in den zerstörten deutschen Städten Millionen von Flüchtlingen. In den bald darauf eingerichteten Besatzungszonen drehte sich alles um die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Wohnraum, um Aufräumen und Wiederaufbau. Fahrräder spielten dabei eine wichtige Rolle – als Verkehrs- und Transportmittel. Josef Heithorn, der seine vor dem Krieg begonnene sportliche Karriere als Radrennfahrer nach einer Oberschenkelamputation beenden mußte, unternahm 1945 eine denkwürdige Fahrradreise von Münster nach Düsseldorf, um seine Verlobte zu besuchen. Er ist noch heute stolz auf seine damalige Fahrt: „Ich fuhr mit einem Bein schneller als alle anderen Radfahrer, die mit mir unterwegs waren. Die konnten kaum glauben, was sie sahen. Mittags war ich in Recklinghausen, und abends in Düsseldorf.“ In Frankreich mußten die Anhänger des Radsports noch bis 1947 auf ihre geliebte Tour de France warten. Deutsche Fahrer wurden aus verständlichen Gründen nicht eingeladen. Erster Nachkriegssieger wurde der Bretone Jean Robic. Für die Deutschen blieben die Jahre bis zur Gründung der Bundesrepublik und bis zur Währungsreform ohne nennenswerte radsportliche Höhepunkte. Als die deutschen Rennprofis dann aber wieder im Ausland starten durften, meldeten sie sich gleich mit einem Paukenschlag zurück: Heinz Müller wurde 1952 in Luxemburg völlig überraschend Straßen-Weltmeister der Berufsfahrer.
Die Berufsfahrer mußten sich schon „warm anziehen“, denn sie hatten 16 Runden auf dem Solinger „Klingen-Ring“ zurückzulegen, einem 15 km langen Straßenkurs, der über Meisenburg, Eichholz, Bünkenberg, Odental, Breidbach, Orth, Herscheid, Flamerscheid, Glüder und Balkhausen verlief. Für Deutschland gingen die Fahrer Otte, Müller, Pankoke, Preiskeit, Reitz, Schild, Schulte, Schwarzenberg und Theissen an den Start. Sieger auf der schweren Strecke wurde jedoch der französische Meister Louison Bobet, der Mann, der von 1953 bis 1955 als Erster die Tour de France dreimal hintereinander gewinnen konnte.
Die meisten Düsseldorfer Radvereine hatten um 1950 den Sportbetrieb wieder aufgenommen, nur vom RC Düsseldorpia war lange nichts zu sehen und zu hören. Daß sich das noch einmal ändern sollte, ist vor allem einem Mann zu verdanken: Franz Thanscheidt. Er war erst 1952 aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen. Wie viele seiner damaligen Leidensgenossen war er unterernährt und so schwer krank, daß ihm sein Arzt eröffnete, er habe nur noch wenige Wochen zu leben. Totgesagte leben bekanntlich länger, und Franz Thanscheidt, der erst 1995 im biblischen Alter von 94 Jahren starb, bestätigte diese Volksweisheit. Er „berappelte“ sich wieder, und zum Teil ist seine wundersame Heilung vielleicht auch darauf zurückzuführen, daß er ein Ziel vor sich sah: Er wollte seine ehemaligen Vereinskameraden wieder zusammenführen. Das ist heute leichter gesagt als damals getan, denn viele ehemalige Sportler waren tot oder lebten nicht mehr dort, wo sie vor dem Krieg gewohnt hatten. 1955, das Jahr, in dem zum ersten Mal nach 1938 mit Heinz Müller und Günter Pankoke wieder zwei Deutsche an der Tour de France teilnehmen durften, hatte sein unermüdliches Werben für den Wiederbeginn endlich Erfolg: Am 8. September fand die erste Nachkriegsversammlung des RC Düsseldorpia statt.
Eine Woche später wurde der neue Vorstand gewählt. Auch der legendäre, 1874 geborene Franz Busch, der den Verein bereits vor der Jahrhundertwende geleitet hatte, fand sich dazu ein. 1. Vorsitzender wurde Heinz Wierz, stellvertretender Vorsitzender Adam Peters, 2. Vorsitzender Franz Thanscheidt, Schrift- und Protokollführer Erich Schwarz, Rennfachwart Wilfried Schlömer, 1. Kassierer Georg Träger, 2. Kassierer Fred Meyer, Sozialwart Bert Peters und Pressewart Friedrich Schlömer. Dafür, daß es gleich zwei Kassierer gab, waren die Beiträge erstaunlich niedrig: 1,- DM monatlich, Jugendliche 60 Pfennig, hatten die Mitglieder zu zahlen!Adam Peters begrüßte, wie es im Sitzungsprotokoll festgehalten wurde, die ehemaligen Düsseldorpianer auf das Herzlichste und gab in bestem Rheinisch der Hoffnung Ausdruck, „daß die ehemalige Düsseldorpia von 1890 als ältester Radfahrverein wieder mal dafür zu stehen kommt, wo sie in ihrer früheren Glanzzeit gestanden hat“. Um punkt 22.36 Uhr ging man zum „gemütlichen Teil“ über. Das Protokoll vermerkt dazu recht nüchtern, aber auch ein wenig geheimnisvoll, daß „ein Mitglied offenbar zu tief ins Glas geschaut“ habe, und daß Kamerad Weisheim meinte, daß diese Sache mit der vor 25 Jahren übereinstimme“. Tja, was immer damit auch gemeint war, eins steht fest: besonders asketisch sind die Düsseldorpianer wohl nie gewesen! Es waren jedoch nicht nur mehr oder weniger trinkfeste „Ehemalige“, sondern auch aktive Rennfahrer eingetreten. Noch im September wurde Wilfried Schlömer in Aachen Neunter, und die Kameraden Juscyk und Wolf belegten Anfang Oktober in Ratingen die Plätze 6 und 7.
Eine Woche später tauchte im Rennbericht über Marl-Hüls neben Schlömer (3.) und Seithümer (8.) erstmals der Name Fritz Schiffer (10.) auf. Fritz Schiffer hat sich bei uns offenbar sehr wohl gefühlt, denn er gehört dem Verein heute noch an. 1956 wurde ein besonders erfolgreiches Jahr. Die A-Fahrer Wilfried Schlömer und Dieter Czock fuhren drei Siege, vier „Zweite“, fünf „Dritte“ und 16 weitere Platzierungen heraus. Auch die C-Fahrer Schiffer, Wolf, Juscyk und Bernheine konnten beachtliche Erfolge erzielen. Das Vereinsrennen wurde am 7. Oktober bei Neuss-Reuschenberg als 50-km -Einzelzeitfahren ausgetragen. Czock war besonders gut aufgelegt und siegte, wie es im Protokoll heißt, bei ungünstiger Witterung“, mit 1.10.10 Std. (42,75 km/h) vor Schlömer mit 1.14.25 Std. (40,3 km/h).
Wenige Tage zuvor hatte der Italiener Ercole Baldini gerade den Stundenweltrekord auf 46,393 km erhöht. Er fuhr seinen Rekord in Mailand auf einer 400 m langen Holzbahn mit einem Rad, das 6,45 kg wog. Amateure wie Czock benutzten damals Straßenräder, die mit schwergängigen „Weinmann“- oder „Altenburger“-Felgenbremsen, Kernledersattel, Vier- oder Fünffachkranz und Stahlkurbeln Marke „Stronglight“ in der Abstufung 52/47 auf ein Kampfgewicht von 11,5 kg kamen. Die Schaltungen stammten von Huret, Altenburger, Simplex und vereinzelt von Campagnolo. Bekannte deutsche Rahmenhersteller waren Rabeneick, Gold-Rad und Bauer. Heute nicht mehr bekannt, damals in Anzeigen als letzter „Schrei“ angepriesen: KÖBO-Ketten und IDEAL-Federgabeln… Am Ende des Jahres gab der BDR eine Rangliste der 100 besten deutschen Amateurstraßenfahrer heraus, in der alle Erfolge in Querfeldeinrennen, Rundstreckenrennen, Straßenrennen und Mehr-Etappen-Rennen mit Punkten bewertet wurden. Schlömer und Czock belegten in dieser Liste die Plätze 31 und 38. Auf Platz 78 rangierte übrigens ein gewisser Rudi Altig vom BRC Endspurt Mannheim…! Nun ja, Altig sollte wenige Jahre später international von sich reden machen, Schlömer und Czock jedoch wanderten schon bald darauf nach Australien aus. Neue Fahrer kamen. 1959 konnte erneut eine eindrucksvolle Erfolgsbilanz der Düsseldorpia-Aktiven gemeldet werden. Bei 16 Renneinsätzen gab es zwei Siege für die Fahrer Fischer und Sprenger sowie nicht weniger als 26 Platzierungen zu feiern. Die in vier Läufen ausgefahrene Klubmeisterschaft gewann Fritz Schiffer. Auch der C-Fahrer Otto Birkholz konnte sich in die Siegerliste eintragen. 1960 jährte sich die Vereinsgründung zum 70. Mal. Das war ein Grund, sich nach einem prominenten Schirmherrn für das Jubiläumsrennen auf der Alten Landstraße in Kaiserswerth umzusehen.
Zu jener Zeit war Franz-Josef Strauß, als Radsportfreund bekannt und immerhin bayerischer Straßenmeister des Jahres 1936, in Bonn Verteidigungsminister. An ihn trat man heran und hatte Glück. Der Minister schickte ein militärisch knappes Grußwort, in dem er bedauerte, aus Termingründen nicht selbst den Startschuß abgeben zu können. Pech für ihn: Drei Jahre später mußte Strauß nach HS30-, Starfighter- und der Spiegel-Affäre zurücktreten, und der RC Düsseldorpia hat ihn danach nie wieder eingeladen … Die Jahreszahl 1960 steht für eine bedeutsame verkehrspolitische Weichenstellung in Deutschland. Immer mehr Menschen hatten sich in den als „Wirtschaftswunder“ bezeichneten Aufbaujahren einen Kleinwagen leisten können, und die Städte bauten immer breitere Straßen und noch mehr Parkplätze und legten die altmodischen“, oft noch aus der Vorkriegszeit stammenden Straßenbahnen mit ihren unbequemen, aber wunderschön nostalgischen Holzbänken still.
Die beginnende Vollmotorisierung der Deutschen sollte schon bald erste Auswirkungen auf den Radsport zeigen. Immer öfter wurden von nun an selbst traditionsreiche Radrennen von den Behörden wegen der zunehmenden Verkehrsprobleme nicht mehr genehmigt. Das Zuschauerinteresse ließ allmählich nach. Wer noch mit dem Rad fuhr, war entweder Schüler oder jemand, der es noch nicht „geschafft“ hatte. Die jungen Leute sehnten den 16. Geburtstag herbei, an dem sie sich auf ihr Moped oder ihre Vespa schwingen konnten. Für die Radsportvereine, die auf jugendlichen Nachwuchs angewiesen waren, konnte das auf die Dauer nicht ohne Folgen bleiben.