Von 1919 bis 1939

Den Stahlgewittern“, wie der 1895 geborene, umstrittene Schriftsteller Ernst Jünger heroisierend die blutigen Materialschlachten des Ersten Weltkriegs bezeichnet hat, fielen die vor 1914 erfolgreichen Rennfahrer Eickholl, Kämmerich und Küppers zum Opfer. Die Davongekommenen hatten andere Sorgen als an Radsport zu denken, denn den „Steckrübenwintern“ der letzten Kriegsjahre sollten noch viele magere Jahre folgen, in denen Revolutionswirren, Reparationszahlungen, Ruhrbesetzung, Putschversuche von links und rechts, Inflation, Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und schließlich der Nationalsozialismus besondere Anforderungen an die Überlebensfähigkeit der Deutschen und natürlich auch der Düsseldorpianer stellten. Die Franzosen als Siegermacht veranstalteten bereits im Juli 1919 wieder ihre „Tour de France“. Über 5500 km war die Strecke diesmal lang. Zum Leidwesen der „Grande Nation“ siegte jedoch kein Landsmann, sondern der Belgier Lambot. Der RC Düsseldorpia brauchte länger für sein „Comeback“: Von Vereinsmeisterschaften abgesehen, fand sein erstes großes Nachkriegsrennen, die Fernfahrt „Rund ums Angertal“, erst am 22. Juli 1923 statt. Über den Ausgang des in der Zeitung groß angekündigten Renntags ist uns nichts bekannt. Die französische Militärregierung verhängte nämlich ausgerechnet für die Zeit vom 29. Juni bis zum 28. Juli 1923 ein Druckverbot für die „Düsseldorfer Nachrichten“. Ein Jahr später, am 11. August 1924, erschien jedoch ein ausführlicher Artikel über die zweite Auflage der über 125,4 km gehenden Fernfahrt. Unglaublich, was damals, auf dem Höhepunkt der Inflation, ein Fahrrad kostete: für ein Markenrad „Victoria“ oder „Diamant“ wurde die Kleinigkeit von 150 Billionen Mark verlangt.

Rennprogramm von 1923 „Durchs Angertal“

Ein Fahrradreifen war für 3 Billionen Mark erhältlich. Neben der sportlichen Tradition wurde bei Düsseldorpia immer noch die gute alte Sitte der Blumenkorsofahrten und der Wanderfahrten gepflegt. Heute kann man es sich kaum vorstellen, aber damals säumten Tausende die Straßen, wenn die Sportvereine mit ihren blumengeschmückten Rädern und Vereinsfahnen an ihnen vorbeizogen. Allzu viele Zerstreuungsmöglichkeiten gab es ja nicht: das Radio steckte noch in den Kinderschuhen, und das Fernsehen war noch nicht erfunden. Dafür ging man gern ins Kino: der Düsseldorfer Harry Piel begeisterte zu Beginn des Jahres 1923 im „Asta-Nielsen-Theater“ die Zuschauer mit seinem Film „Rivalen“. Bereits 1920 war unser späterer langjähriger Ehrenvorsitzender Franz Thanscheidt als Wanderfahrer bei Düsseldorpia eingetreten. Zu diesen Wanderfahrten traf sich jung und alt, um gemeinsam und fröhlich plaudernd landschaftlich reizvolle Ziele anzusteuern. Dort wurden dann die mitgenommenen Thermosflaschen, Butterbrote, Salate und Würstchen ausgepackt und ein Picknick veranstaltet.

Auch Ausflugslokale waren ein beliebtes Ziel. „Hier können Familien Kaffee kochen“, schrieben damals die Gastwirte auf ihre Reklametafeln, und hofften wohl, daß zumindest die Väter lieber mit anderen Getränken ihren Durst löschen würden. Verzehrt wurde zumeist, was die großen, auf dem Gepäckträger mitgeführten Weidenkörbe hergaben, denn Currywurst und Pommes frites gehörten noch nicht zum Standardangebot der Wirtschaften, und viel leisten konnte man sich ohnehin nicht. Trotzdem hatten alle ihren Spaß dabei. Der 1995 verstorbene Franz Thanscheidt erzählte immer gern von jener Zeit: „Wir fuhren in zwei Gruppen, die schnellen Fahrer vornweg und die langsameren hinterher. Für die gefahrenen Kilometer gab es schon eine Punktwertung.“

Wanderfahrten gibt es übrigens noch heute. Der Düsseldorfer Radsportbezirk veranstaltet alljährlich vom Frühjahr bis zum Herbst acht Ausflüge, an denen alle teilnehmen können, die ein Fahrrad besitzen. Neben Straßenrennen waren damals in ganz Deutschland Bahnrennen überaus beliebt. In Düsseldorf gab es zwei Bahnen, eine in Oberkassel, auf der bereits vor dem Krieg Rennen veranstaltet wurden, und eine am Ostpark, die 1924 in Rekordzeit erbaut und am Ostersonntag eröffnet wurde. Weitere Radrennbahnen befanden sich in Köln, Krefeld, Mönchengladbach und in Lank. In Aachen und Düren wurden 1923/24 ebenfalls Bahnen gebaut. So gab es in der näheren Umgebung immer irgendwo ein Radrennen, und es verging kaum ein Wochenende ohne einen Sieg oder zumindest eine gute Platzierung eines Düsseldorfers. Besonders erfolgreich waren jedoch die Bahnfahrer aus Köln: Jean Rosellen und Paul Oszmella traten in den frühen 20er Jahren gegen die anderen Radsportgrößen der Republik wie Adolf und Richard Huschke, Lorenz oder Saldow an und fühlten sich auch in Oberkassel wie zu Hause. Für den RC Düsseldorpia fuhren in jenen Jahren vor dem zweiten Weltkrieg neben dem schon erwähnten Josef Kullmann u.a. Max Iwinski, Adam Peters, Franz Günther, Valentin Meyer, Paul Haubizer, Hans Hoitz und Paul Mücher sowie die Brüder Karl und Heinz Wierz. Valentin Meyer soll einmal sogar der Sieg bei „Rund ums Angertal“ aberkannt worden sein – die Ausschreibung verbot angeblich die Teilnahme von Fahrern, die vorher zu viele Erfolge errungen hatten.

Der zähe Adam Peters war mehr der Mann für die großen Fernfahrten, wie Neuss-Aachen-Neuss oder Rund um Köln. Für Konkurrenz war reichlich gesorgt, denn allein in Düsseldorf gab es in den 20er Jahren mindestens neun weitere Radsportvereine. Einer davon war der Radsport-Club Düsseldorf 1911, der seit 1954 nach Zusammenschluß mit dem Radsport-Verein von 1912 den Namen Düsseldorfer Radsportverein 1911/12 trägt und der damit der zweitälteste Radklub in der Landeshauptstadt ist. Außerdem gab es den Radverein Flottweg 1891, den Radsportclub Düsseldorf, den Sportclub Hota 1924, die Straßenfahrer -Vereinigung, den Radklub Staubwolke, den RV Zugvogel und den RC Radfreunde.

Es ist müßig, darüber nachzudenken, welcher Verein die besseren Rennfahrer gehabt hat, zumal diese auch damals schon gerne zwischen den Clubs wechselten. Tatsache ist jedoch, daß es zu jener Zeit in Düsseldorf sehr gute und erfolgreiche Radsportler gegeben hat. Heinrich Schmitz, vor einigen Jahren verstorbenes Original“ aus Oberkassel, der wegen seines Konditorenberufs auch der Leckere“ genannt wurde, war einer davon. Deutscher Meister im 25 km-Bahnfahren 1930, mit vielen Siegen auf der Bahn, aber auch auf der Straße, konnte und wollte er sich nach der „Machtergreifung“ nicht mit den Nazis arrangieren.Der aus diesem Anlaß geführte Schriftwechsel aus dem Nachlaß des streitbaren Heinrich Schmitz kann heute im Düsseldorfer Stadtarchiv nachgelesen werden.

Die Fahrradtechnik wurde in den 20er Jahren nicht wesentlich weiterentwickelt. Bis auf die Kettenschaltung war im Prinzip ohnehin schon alles erfunden worden, was es heute auch gibt. Rennräder wiesen zumeist nur eine Übersetzung auf und unterschieden sich optisch kaum von den Vorkriegsmodellen. Die Kurbeln wurden noch aus Stahl gefertigt und mit Keilen befestigt. Gelegentlich wurden Hinterräder verwendet, bei denen auf jeder Achsseite ein oder zwei unterschiedlich große Ritzel angebracht waren. Für Bergauffahrten baute man das Hinterrad einfach verkehrt herum ein und hatte so eine, wenn auch umständlich zu bedienende, „Gangschaltung“. Reichte das nicht aus, mußte eben geschoben werden. Lange Zeit wurden Schaltungen auch von vielen Funktionären als „unfairer Vorteil“ abgelehnt. Anfang der 30er Jahre kamen dann Kettenschaltungen, zunächst mit drei, später mit vier Gängen, auf.

Von der heute erreichten Präzision waren diese Getriebe zwar noch weit entfernt. Über lange Hebel oder Bowdenzüge mußte die wenig flexible Rollenkette mit Geschick und Glück auf das passende Ritzel geworfen werden. Der Verschleiß war hoch und die Defektanfälligkeit auch. Die ersten in Deutschland angebotenen Kettenschaltungen blieben den Profis vorbehalten. Die englische Firma Reynolds meldete 1935 nahtlose Stahlrohre für Fahrradrahmen zum Patent an, die „konifiziert“ waren, d.h. die Rohrwandungen waren an den Stellen, an denen sie aneinandergefügt wurden, dicker als an den übrigen, geringer belasteten Stellen.

Mit diesen auch heute noch bekannten Reynolds 531-Rohren konnte man leichtere, aber dennoch genügend stabile Rahmen herstellen. Die technischen Entwicklungen bei den Rennrädern und die besseren Straßen führten dazu, daß die Durchschnittsgeschwindigkeit bei den bedeutenden Straßenrennen, die seit 1900 fast gleich geblieben war und etwa 27 km/h betrug, zwischen 1930 und 1940 auf über 35 km/h anstieg. Deutsche Radprofis machten jetzt auch international von sich reden. Der Berliner Kurt Stöpel fuhr 1932 bei der Tour de France auf einen sensationellen zweiten Platz – eine Leistung, die erst 64 Jahre später von einem anderen deutschen Rennfahrer wieder erreicht werden sollte. Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den beginnenden 30er Jahren waren schwierig. Doch kaum hatten sich erste Anzeichen für eine Konsolidierung der Weimarer Republik eingestellt, gelangten die Nationalsozialisten an die Macht und sorgten auf ihre Weise in wenigen Jahren dafür, daß Deutschland nicht mehr wiederzuerkennen war. Mit individualistisch veranlagten älteren Radsportlern vom Schlage eines Heinrich Schmitz, die sich nicht so leicht „gleichschalten“ ließen, gaben sich die Nazis nicht lange ab. Ihr Bestreben ging dahin, die Vereine zwar bestehen zu lassen, den Radsportnachwuchs jedoch in die Hitlerjugend zu zwingen. Josef Heithorn, von 1963 bis 1983 1. Vorsitzender des RC Düsseldorpia, erinnert sich: „Wir mußten einheitliche Trikots tragen, bei denen auf der Brust ein Hakenkreuz aufgenäht war. Auch auf dem Steuerrohr unserer Fahrräder war das Hakenkreuzsymbol angebracht.“

Josef Heithorn, der damals in Münster wohnte, begann seine sportliche Laufbahn 1936 mit einem originellen Sieg: Er gewann ein Rennen, das mit Transporträdern ausgetragen wurde. Weitere Siege folgten, denn trotz der „Gleichschaltung“ gab es natürlich weiterhin zahlreiche und spannende Rennveranstaltungen in Deutschland. Und obwohl man in Europa tiefes Mißtrauen und Aversionen gegen das nationalsozialistische Deutschland hegte, konnten Radsportstars wie der Bahnfahrer Gustav Kilian und der Straßenfahrer Erich Bautz, der 1937 bei der Tour de France drei Tage im gelben Trikot fuhr und schließlich Neunter wurde, sich bei ihren Auslandsstarts nicht über mangelnde Fairneß und fehlenden Beifall beklagen.

Bald schon zeigte sich jedoch, warum die Nazis den „blinden Gehorsam“ gegenüber dem Führer“ zum höchsten Gebot erhoben hatten: am 1. September 1939 löste Hitler mit dem Überfall auf Polen den 2. Weltkrieg aus. Schon wieder fiel ein Vereinsjubiläum, diesmal war es das 50. Stiftungsfest, in ein Kriegsjahr. Millionen Menschen starben. Im Bombenhagel der Alliierten, der die deutschen Städte zerstörte, ging 1943 auch das unter, was zuvor zwei Generationen von Düsseldorpia – Mitgliedern an Vereinsvermögen, Urkunden und Pokalen zusammengetragen hatten.